Die folgende Interpretation unseres Lieblingsfilms stammt von Dieter Matthias, akad. Oberrat an der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Uni Köln. In Auszügen ist hier sein Artikel
Schluss mit dem Warten auf den Märchenprinzen!
wiedergegeben, erschienen in der Heftreihe "Praxis Deutsch"
Heft 143, Friedrich Verlag, Mai 1997, S. 48 - 55
"Wenn Märchen "Schlüssel zur Welt" und Orientierungshilfen für junge Menschen sind ..., dann vermögen sie den Prozess der Identitätsfindung, der immer auch ein Prozess der Geschlechtsfindung ist, zu beeinflussen. ... Es ist erwiesen, dass Film und Fernsehen die jungen Zuschauerinnen und Zuschauer zur Identifikation, zur Rollenübernahme verführen. Gerade bei der Konstruktion der sozialen Kategorien 'Frau' und 'Mann' benutzen die Medien häufig traditionelle Weiblichkeits- und Männlichkeitsklischees. ... Neben den mehr oder weniger trivialen Märchenverfilmungen (...) gibt es allerdings auch solche, die filmerzählerisch und filmtechnisch die bekannten und tradierten Muster aufbrechen, und veränderte Identifikationsangebote machen. Zu dieser seltenen Art von Märchenfilmen gehört Drei Haselnüsse für Aschenbrödel ...
Drei Haselnüsse für Aschenbrödel zeichnet die Figur eines selbstbewussten, "emanzipierten" Aschenbrödels. ... Libuše Šafránková (...) spielt überzeugend und zur Identifikation einladend ein Wärme und Selbstbewusstsein ausstrahlendes, mutiges und kluges Aschenbrödel, das seine Persönlichkeit gegenüber Stiefmutter und -schwester, aber auch gegenüber dem Prinzen gekonnt verteidigt und schließlich den Prinzen dazu bringt, um sie zu werben, nachdem sie ihm ihre Selbstsicherheit vorgeführt hat. Sie ist eine autarke Märchenfigur voller jugendlicher Anmut, die weder irgendeinem Mann zu gefallen sucht, noch aus dessen Perspektive ins Bild tritt. ...
Im Vergleich zu Vorlíceks Aschenbrödel stellt das ... Grimmsche Aschenputtel eine wesentlich blassere Figur dar. ... Nicht viel emanzipierter gestaltet ist die literarische Vorlage ... von ... Bozena Nemcova .... . Aschenbrödel ist hier, wie bei Grimm - ein von der Stiefmutter drangsaliertes Mädchen, das ein Prinz erlöst. ... Somit konnte der Regisseur die emanzipatorischen Tendenzen in seiner filmischen Zeichnung Aschenbrödels nicht der Vorlage entnehmen. Diese hat Vorlícek wohl eher aus der Biographie der Autorin Nemcova geschöpft, d.h. vor allem aus dem Ruf, den sie in der sozialistischen Tschechoslowakei genoss und aus anderen ihrer Werke. ...
Interessant ist an Vorlíceks Verfilmung, dass das neue Mädchenbild, das Aschenbrödel verkörpert, nur im Kontext einer Veränderung der anderen Rollenprofile, besonders des männlichen Gegenübers, des Prinzen, erfolgreich durchzuhalten ist. Im Film ... tritt der Prinz als ein lebenslustiger, noch etwas linkischer junger Mann auf, dem die Zwänge des höfischen Lebens und der höfischen Erziehung zuwider sind und der sich von diesen lösen will. Er flieht aus den einengenden Mauern seines Zuhauses in den verschneiten Wald, fort vom verstaubten Unterricht des Haus- und den Formalismen des Tanzlehrers. Die Prinzenfigur verkörpert kein männliches Macht- oder Dominanzgebaren: Ein solcher Prinz kann Aschenbrödel nicht erlösen, aber er bringt - wie auch Aschenbrödel - Voraussetzungen mit, die ahnen lassen, dass die zukünftige Verbindung zwischen beiden von Selbständigkeit und Gleichberechtigung geprägt sein wird.
Herrschaftsstrukturen werden in der Verfilmung ausschließlich karikierend gezeichnet. Sie sind nur verbindlich für die, die glauben von ihnen zu profitieren, wie z.B. die eitle Stiefmutter und deren Tochter. Die Knechte und Mägde des Hofes lachen den Prinzen aus, als er erscheint, um mit Hilfe des verlorenen Schuhs die rechte Braut zu suchen. Spontan bricht der fröhliche Volksspott über ihn herein, auch noch, als alle wissen, wen sie vor sich haben. Eine solche Darstellung liegt allerdings ganz im Trend nahezu aller Märchenfilme aus sozialistischen Ländern. ...
Im Folgenden stellt der Autor verschiedene Möglichkeiten vor, wie man den Film im Deutschunterricht einsetzen könnte. Hier Auszüge aus der ersten Konzeption: Vergleich des Frauen- und Männerbildes bei Grimm und Vorlícek
... Die Schülerinnen und Schüler bemerken, dass Aschenbrödel Rollenmerkmale übernimmt, die in unserer Gesellschaft als männlich gelten, etwa wenn sie Männerkleidung trägt (Motiv des Geschlechtertausches) und schießt. ... Dies ist jedoch noch keine "emanzipierende" Zeichnung der Heldin. Aschenbrödel muss sich, um sich Anerkennung und Respekt bei dem Prinzen und seinen Begleitern zu verschaffen, auf die Rituale und Gepflogenheiten einer Männergesellschaft einlassen. Sie erhält aus der Nuss Männerkleider, d.h. eine Jagdausrüstung, damit sie sich überhaupt mit dem Prinzen messen und so auf eine Ebene stellen kann.
Über das Messen am "Männlichen" geht Vorlícek allerdings im ganzen Film noch weit hinaus, indem er die Heldin als eine starke junge Frau zeichnet, die völlig unabhängig von Beurteilungen durch männliche und weibliche Autoritäten ganz sie selbst ist. ... Die Ankunft der Königsfamilie mitsamt dem Prinzen macht keinerlei Eindruck auf sie und hält sie nicht davon ab, lieber in den Wald zu reiten und ihr inneres Glück in die Winterluft zu jubeln.
Sie will auch nicht um ihrer Schönheit willen geliebt (Schleier vor dem Gesicht bei Tanz; Rätsel) und vom Prinzen zur Braut genommen werden, sondern gefragt werden, ob sie ihn will.
Aschenbrödel will sich auch nicht wie eine Jagdbeute am Ende finden und heimholen lassen, sondern freiwillig auf den Bräutigam zugehen, ihr Inneres von ihm entdecken lassen und ihre Freiheit mit ihm teilen (Schlussszene mit Ritt in den Wald, gemeinsam, aber jeweils auf eigenem Pferd; ...)
Die Schülerinnen und Schüler erkennen, dass zu diesem Aschenbrödel eigentlich kein Cinderella-Prinz in Gala-Uniform passt, der - wie auch bei Grimm - erst auf dem Ball als Tänzer in Erscheinung tritt, und vermuten, dass Vorlícek aus diesem Grund den Prinzen als fröhlichen jungen Mann charakterisiert hat, der versucht, die Regeln des Hofes zu durchbrechen. Nur weil er vor seinem Hofmeister Reißaus nimmt, bietet sich ihm die Gelegenheit, Aschenbrödel zu begegnen. Seine jungenhafte, unbekümmerte Art lässt ihn, unbeabsichtigt, die Zaubernüsse beschaffen, die der Knecht der Heldin überbringt und die beide zusammenführen. Allerdings wird auch deutlich, dass das "Kindliche" in unserer Gesellschaft in der Regel dem Männlichen, dem "Kind im Manne" zugestanden wird. Die Frauen, auch die Königin, sind hier die stärkeren Figuren. Dabei erfahren die Schülerinnen und Schüler, dass die Veränderungen der beiden Figuren gegenüber den vertrauten Profilen der Märchenfiguren - die 'Weichzeichnung der Jungenfigur' und die 'Emanzipation der Mädchenfigur' - es ermöglichen am Schluss des Films, anders als bei Grimm, die Verbindung zweier selbständiger Menschen zu inszenieren, die sich als gleichwertig empfinden."
Na, lieber User, hast Du den Text bis hierhin vollständig gelesen? Alle Achtung!
Ich finde aber, es lohnt sich und danke an dieser Stelle Herrn Matthias ganz herzlich für die freundliche Erlaubnis, seinen Text zu verwenden! Herr Matthias hat es verstanden, den Aspekt
ausführlich darzustellen, der meiner Ansicht nach den großen Erfolg des Films ausmacht: Das ungewöhnliche Bild einer weiblichen Hauptfigur.
Der genannte Artikel enthält darüber hinaus noch weitere, äußerst interessante Informationen und Deutungsmöglichkeiten, z.B. bezüglich der Kameraführung, die auch emanzipatorisch ist (z.B. sieht man häufig etwas aus Aschenbrödels Blickwinkel, weniger sieht man aus dem Blickwinkel des Prinzen - Aschenbrödel wird nicht betrachtet sondern sie selber schaut sich um). Spannend sind auch die Ergebnisse von Schülerbefragungen: Was gefällt Jungen, was gefällt Mädchen besonders an dem Film? Ihr seht, ich habe noch lange nicht alles zitiert!
Wer sich näher mit dem Artikel beschäftigen, und ihn vielleicht einmal ganz lesen möchte, kann sich das Heft, in dem er zu finden ist, ganz einfach über das Internet bestellen beim friedrich-verlag.de.