Interview mit Dr. Rolf Giesen

Dieses Gespräch habe ich am 24.10.2023 mit dem Mann geführt, der auf der 2023 erschienenen DVD/BluRay-Edition das Booklet verfasst und den Audiokommentar gesprochen hat.

 

Herr Dr. Giesen, Sie sind Historiker und Spezialist für den Phantastischen Film, den Animationsfilm und noch so einige andere Filmthemen. Wie kamen Sie zu dem Thema „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“?

 

Ich habe lange mit Babelsberg zusammengearbeitet. 1985 hatte ich erstmals mit Uwe Fleischer Kontakt [Anm.: Der Bonusfilm „Fünf Sterne für drei Haselnüsse“ ist unter Uwe Fleischers Leitung entstanden]. Ich habe mich dafür eingesetzt, dass ost- und westdeutsche Märchenfilme wieder ins Programm kommen,  kommentiert und in einer besseren Fassung zugänglich gemacht werden. Die meisten Filme aus dem Osten liefen ab den 1960er Jahren weitgehend nicht mehr in Westdeutschland. „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ war eine Ausnahme, dieser Film kam im Jugendfilm-Verleih heraus, dieser Verleih hatte einen guten Draht zu den DDR-Filmstellen. Eine Zeitlang kam es sogar zum Austausch. Die Familie der Geschäftsführer der Jugendfilm-GmbH hatten politische und verwandtschaftliche Verbindungen zur DDR.

 

Die Tschechen hatten überdies einen Fürsprecher im Westen, Gert Kaspar Müntefering, der Václav Vorlíček sehr gerne mochte und er hat sich nicht nur dafür eingesetzt, dass tschechische Produktionen in den WDR kamen, sondern auch, dass koproduziert wurde und Mittel von Köln nach Prag flossen. Es gab dann oft zwei deutsche Synchronisationen, eine westdeutsche und eine ostdeutsche. Die westdeutschen Produktionen waren immer gering ausgestattet, in der DDR und der ČSSR war die Finanzierung besser.

 

Der ursprüngliche Regisseur Jiří Menzel wollte den Film nicht machen, weil er aus künstlerischen Gründen nicht mit den Deutschen zusammenarbeiten wollte, sie wären zu ernst, soll er angegeben haben.

 

Im Gegensatz zum Westen, wo Kinderfilmer vom Budget her eher im C- und D-Bereich angesiedelt waren, genossen sie im Osten besondere Priorität. Sie sollten die nächste Generation schulen. Auch die DEFA hatte gute Märchen- und Kinderfilme gemacht und Kassenknüller gelandet. Doch bei Drei Haselnüsse für Aschenbrödel hatten die Tschechen zumindest künstlerisch den wesentlichen Anteil. Und die machten es anders als die DEFA. Ihre Filme sind freier, ungebundener, man kann lachen und weinen. Das ist bei den DEFA-Filmen nicht möglich. Bei der DEFA steht der Kopf im Vordergrund, bei den Tschechen das Gefühl. Die Tschechen haben Filme gemacht, die Charme, Witz und Humor haben. Bei der DEFA gab es z. B. kaum Komödien. Das Aschenbrödel hätte auch nicht von einer Deutschen gespielt werden können.  

 

Obwohl die DDR nicht in Prag einmarschiert ist, gab es immer eine gewisse Distanz zwischen Ostdeutschen und Tschechen. Die Verbindung zum WDR war viel besser als die zu den DEFA-Studios, vor allem auch, weil es beim WDR Geld gab. Westwährung war gesucht und die Filme waren dann ein Exportschlager. 3hfa ist weltweit gelaufen, hatte aber den größten Erfolg in der DDR. Die Ostdeutschen kannten sowas nicht, die Märchenfilme dort waren gut, aber sie hatten nicht unbedingt Seele. Die Hauptdarstellerin wird gleich richtig eingeführt, und das Rollenprofil wird den ganzen Film über durchgehalten.  

 

Sie haben einen sehr großen Wissens- und Erfahrungsschatz. Haben Sie trotzdem noch für das Booklet und den Kommentar recherchiert?

 

Heute recherchiert man im Internet. Die Originalmärchen habe ich natürlich als Bücher im Regal stehen. Leider kenne ich niemanden persönlich, der an dem Film mitgearbeitet hat. Ein Interview mit Václav Vorlíček war sehr interessant, das kann man sich heutzutage alles über ein Übersetzungsprogramm laufen lassen. Ich hätte mir gewünscht, mehr Interviews mit den damaligen Mitwirkenden zu führen. Das scheitert aber an mehreren Dingen: Viele sind schon verstorben, zu den Tschechen hätte man hinfahren müssen – das ist dann zu viel Aufwand und auch zu teuer für so einen Kommentar.

 

Daneben war mir wichtig, anzuregen, nicht nur den Film zu sehen, sondern sich auch mit dem Märchen dahinter zu beschäftigen. Denn Aschenbrödel ist ein chinesisches Märchen. Es kam über die Seidenstraße und hat unzählige Ausprägungen entwickelt, bis es in Frankreich zu Cendrillon geworden ist, nach Deutschland zu den Gebrüdern Grimm kam und durch Božena Němcová nach Tschechien. Es ist interessant, die Versionen zu vergleichen und zu sehen, wie der Drehbuchautor das Märchen von Němcová verändert hat. Das Rollenprofil des Mädchens ist eher religiös und duldsam, also das glatte Gegenteil von dem, was man im Film sieht.  

 

Wenn man die verschiedenen Aschenbrödel-Märchen liest, kann man die kulturellen Verbindungen erkennen, aber auch, was der Film an Eigenem geleistet hat und wo er das Märchen völlig neu interpretiert hat. Das hat noch niemand vorher mit Aschenbrödel gemacht. Die Disney-Fassung zum Beispiel hat immer noch dieses duldsame, leidende Mädchen. Hier ist es aber klar: sie hilft sich selber, sie ist patent und trotzdem liebreizend.  

 

Sind Sie auf etwas gestoßen, dass Sie besonders interessant fanden oder dass Sie überrascht hat?

 

Die Dreharbeiten im Winter waren besonders. Das fand ich sehr interessant, dass es unabsichtlich, nur aufgrund studiointerner Kapazitätsfragen zu einer ganz eigenen Qualität kommt. Auch erstaunlich finde ich den Erfolg des Films, dass er über die Jahre hinweg zum „Kultfilm“ geworden ist.  

 

Die Frage, an der man nicht vorbeikommt: Warum ist der Film so erfolgreich geworden?

 

Es ist hauptsächlich das Verdienst des Autors František Pavlíček – neben den Darstellern -, dass der Film so eine Zeitlosigkeit und eine moderne Auffassung der Frauenrollen gefunden hat.

 

Es war auch wichtig, dass man für das Aschenbrödel ein wirkliches Kameragesicht mit sehr guten Augen besetzt hat. Wenn die Hauptrolle falsch besetzt gewesen wäre, hätte der Film es nicht geschafft. Bei den deutschen Filmen ist viel Kopfarbeit, man sieht, dass die deutschen Schauspielerinnen und Schauspieler viel denken, viel mehr, als dass sie fühlen.  

 

Eine Rolle gespielt haben die festen Teams, dies es damals in den Studios gab. Heute gibt es das nicht mehr, man kennt einander und arbeitet ab und zu zusammen, aber es gibt nicht mehr diese festen, eingespielten Teams, die täglich zusammenkommen, einander kennen und eine Zusammenarbeit entwickelt haben. Auch das merkt der Zuschauer.  

 

Heute sind diejenigen, die als Kinder den Film sahen, erwachsen und zeigen ihn ihren Kindern. Wenn man den Film als Kind zum ersten Mal sieht, ist das genau richtig. Wenn man ihn als Erwachsener zum ersten Mal gesehen hat, hat man schon eine klare Distanz. Zuschauer, die damals 5, 6 oder 7 Jahre alt waren, geben ihren eigenen Kindern das weiter, und die auch ihren Kindern – ich kenne keinen anderen Märchenfilm, bei dem das so ist. Es gibt sehr gute Filme, wie die Baba Jagá-Filme aus Russland oder Es war einmal (La Belle et la Bête) von Jean Cocteau aus Frankreich, sie sind sehr kindgemäß und musikalisch sehr gut bearbeitet. Aber vom Stoff und der Besetzung her ist Aschenbrödel etwas qualitativ Neues, und es ist ein feminines Märchen. Ich glaube, dass vor allem ein weibliches Publikum das attraktiv findet. Die Mütter entscheiden, was die Kinder sehen, und das zeigt sich hier ganz besonders.  

 

Wie alt waren Sie, als Sie „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ selber zum ersten Mal gesehen haben?

 

Da war ich in den 20ern, ich habe gesehen, der ist gut, aber nicht wahrgenommen, dass es ein Evergreen wird. Er hatte in Westdeutschland zunächst nicht die Durchschlagskraft wie in der DDR.  

 

Glauben Sie, dass die Einstellung Ota Hofmans, vom Prager Frühling überrollten Kollegen zu helfen, einen Einfluss auf die Stimmung des Films hatte?

 

Ganz bestimmt. Das ist auch eine Form des Widerstands. Es ging auch darum, eigenes Kulturgut zu bewahren und neu zu formulieren. Sogar in einer Koproduktion mit der DDR. Es ist der eigene Humor, der wurde hier fortgesetzt. Das wäre in einem Gegenwartsfilm nicht möglich gewesen, also hat man die Kulisse eines Märchens genutzt. Dadurch dass der Westen eingestiegen ist, konnten die Studios in Prag sagen: Es lohnt sich, diese Filme zu machen. Sie waren Publikumsrenner und man hatte bei der Zensur wenig Möglichkeit einzugreifen. Die Teams, die damals in den Studios zusammenarbeiteten waren eine verschworene Gemeinschaft.

 

Wie sind Sie als Fachmann für Filmtricks mit den Tricks in 3hfa zufrieden?

 

In diesem Film gab es nicht viele Tricks. Sie waren einfach, aber wirkungsvoll, wie das damals der Fall war. Die Spezialisten in den Studios hatten sehr große Erfahrung, auch Möglichkeiten, mit simplen (damals analogen) Mitteln gute Effekte realisieren zu können, die stimmig aussahen.  

 

Ist so ein Erfolg eines Kinderfilms aus einem eher kleinen Land heute noch denkbar?

 

Unter den Koproduktionen der DDR ist es die beliebteste. Das hat wirklich etwas ganz Besonderes gehabt und damit der tschechischen Filmproduktion erlaubt, mehr Filme dieser Art herzustellen, die alle sehr gut gelaufen sind, bis dann in den 1990er Jahren auch dort die Filmproduktion in Finanzierungsschwierigkeiten geriet. Heute ist alles Marketing. Heute haben Sie amerikanische Firmen, die das Feld dominieren und bestimmen, was weltweit läuft. Europäische Produktionen gelten als local productions und sollen nicht weltweit laufen. In den 70ern konnte Aschenbrödel noch international verkauft werden, das wäre heute wahrscheinlich nicht mehr möglich.

 

Disney hat es probiert, mit sehr viel Budget Blockbuster in die Welt zu setzen, die aber nichts von diesem Charme haben. Das ist etwas eigentümlich Tschechisches, das findet man nicht in Polen, Rumänien oder Bulgarien, es hat nur in Prag so funktioniert. Dort hat man sich auch mehr getraut. Die Tschechen waren ganz einfach menschlicher, gefühlvoller, hatten mehr Empathie, waren keine Apparatschiks.  

 

Die Technik des Filmemachens war damals anders. Es war eine andere Zeit, es gab viel engere Kooperationen, auch der politische Druck fehlt heute. Damals hatte man die Zensur, die Schere im Kopf und war trotzdem oder gerade deswegen bemüht, etwas Bedeutsames im Kino rüberzubringen.

 

 

Ich bedanke mich ganz herzlich für die Bereitschaft und die Zeit, die Dr. Giesen aufgewendet hat, um meine Fragen zu beantworten und seinen reichen Erfahrungsschatz zu teilen!